Dieser Fall eignet sich gut für die Besprechung/Simulation von moralischem Stress, ausgelöst durch eine moralisch herausfordernde Situation, sowie der moralischen Prüfung einer sozialberuflichen Entscheidung unter den Bedingungen von moralischem Stress im Rahmen einer didaktischen Fallberatung/Fallbesprechung.
Fallbeschreibung
Sharla arbeitet in einer Einrichtung der niedrigschwelligen, akzeptierenden Drogenhilfe. Mittelpunkt dieser Einrichtung ist ein Kontaktcafé, in dem die Nutzer:innen Zugang zu überlebenssichernden Hilfeleistungen haben. So haben diese die Möglichkeiten, warme Mahlzeiten zu bekommen, ihre Wäsche zu waschen, Grundbedürfnissen der Hygiene nachzukommen, Wundversorgung durch medizinisches Personal zu erhalten und natürlich Kontakt zu Sozialprofessionellen aufzunehmen. Dieser Kontakt reicht von kurzen Fragen und Gesprächen des Alltags zu psychosozialen Beratungssettings. Zudem können die Nutzer:innen in den Konsumräumen unter hygienischen und stressfreien Bedingungen ihre mitgebrachten Drogen konsumieren.
Die Einrichtung hat für den Umgang aller anwesenden Menschen miteinander eine Hausordnung verfasst. Diese Hausordnung wird innerhalb der ersten Kontakte mit allen Nutzer:innen besprochen und der gewünschte Rufname wird unter die Hausordnung notiert. Diese Notiz wird wie eine Unterschrift auf einem Vertrag gewertet und kommt es dann zu einem Verstoß gegen die Hausordnung, folgen Sanktionen in Form von Hausverboten. Hausverbote beinhalten sowohl das Fernbleiben des Geländes als auch die Nicht-Leistung aller angebotenen Hilfen.
Für die ausgesprochenen Hausverbote existiert keine Richtlinie im Sinne einer Orientierungs- und Entscheidungshilfe. Die Mitarbeitenden (Sozialprofessionelle, Krankenpfleger:innen und studentische Hilfskräfte) beziehen sich bei kleiner eingestuften Verstößen auf vergleichbare Situationen und sprechen dann bereits in dem Moment ein Hausverbot aus. Bei Unsicherheiten seitens der Mitarbeitenden wird in der Abschlussrunde oder in der wöchentlich stattfindenden Teambesprechung eine adäquate Sanktion gemeinschaftlich verhandelt.
Im Folgenden geht es um den Verstoß von Heiko gegen den Absatz der Hausordnung „Androhung und Anwendung von Gewalt sind verboten“. Heiko kam auf das Gelände der Einrichtung und näherte sich gezielt Marc, der auf dem Boden hockte. Heiko trat Marc ins Gesicht. Durch das Eingreifen Sozialprofessioneller und anderer Nutzer:innen, konnte die Situation schnell aufgelöst werden. Heiko berichtet, dass er diese gewalttätige Handlung als notwendig empfinde, weil Marc seine Freundin ‚abgezogen‘ habe. Die Sozialprofessionellen, die sich dieser Situation angenommen hatten, haben Heiko aufgrund eines Verstoßes gegen die Hausordnung sofort des Hofes verwiesen und ihm mitgeteilt, dass sie den Umfang des Hausverbotes noch nicht einschätzen können und der Zeitraum des Hausverbotes nach der nächsten Teambesprechung mit ihm besprochen wird. Heiko zeigte sich einsichtig und verließ sofort das Gelände. In der Teambesprechung wurde die Handlung von Heiko als schwere Gewalttat und somit großer Verstoß gegen die Hausordnung eingestuft. Zudem wurde berücksichtigt, dass die Gewaltbereitschaft vieler Nutzer:innen durch die neue Corona bedingte Situation gestiegen sei, und man Gewalthandlungen im Moment höher als gewohnt bestrafen sollte, um die Nichttoleranz von Gewalt seitens der Einrichtung zu verdeutlichen. Das Team einigte sich auf ein Hausverbot von drei Monaten. Vergleichbare Verstöße, wurden in der Vergangenheit mit einem Monat Hausverbot sanktioniert, was in Sharla ein Ungerechtigkeitsgefühl auslöste.
Danksagung
An eine Studentin, welche mir den Fall als Fallspenderin zur Verfügung stellte