Der Fall könnte sich insbesondere für eine moralische Prüfung von Handlungen im Spannungsfeld von Fürsorge und Nicht-Schaden sowie für die Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Frau O. eignen. Darüber hinaus könnte der Fall den Ausgangspunkt für eine fachliche Diskussion über die Legitimität institutioneller Normen bilden.
Fallbeschreibung
Frau O. (Mitte 60) lebt seit einigen Monaten in einem Pflegeheim. Der Umzug in die Einrichtung wurde notwendig, da Frau O. ihren Alltag u. a. aufgrund einer schweren Arthrose und einer chronischen Lungenerkrankung nicht mehr selbstständig bewältigen konnte. Nach einer weiteren Dekompensation ihres Gesundheitszustandes vor einigen Wochen ist es Frau O. kaum noch möglich, das Bett zu verlassen. Zusätzlich zu ihren körperlichen Erkrankungen ist Frau O. seit vielen Jahren alkoholabhängig. Frau O. gibt an, aktuell ca. eine Flasche hochprozentigen Alkohol am Tag zu trinken. Der Konsum in der Pflegeeinrichtung ist offiziell verboten, wird bisher aber geduldet. Woher sie den Alkohol bekommt und wo sie ihn in ihrem Zimmer versteckt, ist weitgehend unklar. Es wird angenommen, dass ein Bekannter, der sie ca. einmal in der Woche besucht, sie mit Alkohol versorgt. Frau O. berichtet, ihren Konsum nicht reduzieren zu wollen. Einen Entzug brach sie kürzlich am zweiten Tag ab. Da Frau O. aufgrund ihrer Erkrankungen Probleme hat, ihre Angelegenheiten zu regeln, wurde vom Amtsgericht eine rechtliche Betreuung bestellt, die sie in den Aufgabenkreisen „Gesundheitsfürsorge“, „Wohnungsangelegenheiten“ und „Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern“ unterstützt.
Seitdem Frau O. weitgehend bettlägerig ist, kommt es regelmäßig zu Stürzen, bei denen sie sich zum Teil erhebliche Verletzungen zuzieht (großflächige Schürfwunden, Prellungen, V.a. Frakturen). Die Pflegekräfte der Einrichtung gehen davon aus, dass die Stürze meist in alkoholisiertem Zustand und bei dem Versuch erfolgen, sich mit dem im Zimmer versteckten Alkohol zu versorgen. Da Frau O. eine Krankenhauseinweisung trotz ausgeprägter Schmerzen und des Verdachts auf mehrere Frakturen ablehnt, beschränkt sich die ärztliche Versorgung auf Besuche ihres Hausarztes. In einem Gespräch zwischen der Pflegedienstleitung und dem zuständigen Betreuer kommt die Frage auf, ob es entlastend sein könnte, Frau O. den offenen Alkoholkonsum zu ermöglichen (z. B. indem ihr dreimal täglich eine bestimmte Menge ans Bett gestellt wird), um sie so davon abzuhalten, selbstständig das Bett zu verlassen und weitere Stürze zu vermeiden. Der Vorschlag wird kontrovers diskutiert.